Johannes Reuchlin, Rechtsgelehrter und berühmtester Sohn unserer Heimatstadt Pforzheim, Haupt des deutschen Humanismus und Namensgeber unserer Chuchi, verlangte Pflege aller kultureller Werte, gesittetes Verhalten gegenüber unseren Mitmenschen und angemessene Geselligkeit zur Förderung eines gedeihlichen Zusammenlebens; alles Gebote, wie sie sinngemäß in der Satzung unserer Bruderschaft formuliert sind. Darüber, ob Reuchlin auch Hobbykoch war, schweigt sich der Chronist aus. Gleichwohl sind alle Brüder stolz auf den Namen „Reuchlin Chuchi Pforzheim“.
Was also lag den kochenden Jüngern Reuchlins näher, als anlässlich des 50. Geburtstags ihrer Chuchi der Metropole des europäischen Geistes – und Kulturgeschichte, der Dichter, Denker und Maler, aber auch der Künstler am Herd, der Bühne eines Marie-Antoine Carême, Fernand Point, Alain Ducasse und vielen anderen – Paris die Ehre zu erweisen. Schon Heinrich IV., der untreue Hugenotte, stellte fest: „Paris ist eine Messe wert“. Diese königliche Erkenntnis verewigte Peter Alexander in seinem Evergreen „Paris ist eine Reise wert“.
Unser Organisationstalent Manfred schaffte es tatsächlich, den Ausflug in eine in 2013 recht spärliche Folge mehrerer Tage mit schönem Wetter zu platzieren.
Georg, unser Küchenchef, verkürzte die ohnehin nur wenigen Stunden im TGV mit einem schmackhaften Vesper und Champagner; wohl der Grund, warum nach der Landung im gare de l’est die Welt viel schöner und der Himmel noch blauer war. Ringsum elektrische Eisenbahnen, schnittige, stromlinienförmige, auf Hochglanz polierte Lokomotiven mit ihren doppelstöckigen Anhängsel dahinter, eine Märklin-Spielzeugausstellung für Riesen.
Auch die Taxifahrer, denen der Transfer zu unserem Hotel oblag, spürten offenbar intuitiv, was die deutschen Hobbyköche erwarteten und nutzten die Gelegenheit zu einer Stadtrundfahrt, vorbei an Gebäuden mit viel Geschichte und durch brodelnde Geschäftsstraßen. Nach kurzen Ruhepausen an unzähligen Ampelanlagen checkten wir in unser Refugium ein, dem Concorde Montparnasse, ein Hotel so richtig nach Marmiten-Geschmack. Alle Zimmer „avec tout comfort“. Im Innenhof ein schnuckeliger Patio mit exotischen Pflanzen und Düften, eine Bar mit einer riesigen Palette alkoholischer Überlebenshilfen und freundliches und hilfreiches Personal versprachen das optimale Gelingen unseres Ausflugs.
Jetzt ein Mittagsschläfchen in dem einladenden Bett. Nix da, Kultur befahl das Programm: einen belebenden Spaziergang über den nahe unserem Hotel gelegenen Cimetière du Montparnasse, einem der berühmtesten Friedhöfe von Paris; für den Besucher eher ein Park, wenn sich die Sinne erfreuen an den Platanen, Zetern und Ulmen, an den Palmen und Gruppen von Birken und Nadelhölzern, an der betörend duftenden Blumen- und Sträucherbepflanzung und an einem Meer von Rhododendren und Gladiolen. Dazwischen die Ruhestätten von Samuel Beckett, Jean-Paul Sartre, Charles Baudelaire und Simone de Beauvoir. Die Zeit bis 18.30 Uhr stand zur freien Verfügung – unter der Dusche und im Bett.
Dann erlebte ein beschwingtes und hungriges Häuflein Kochschwestern (Schwägerinnen) und Kochbrüder teilweise mit drei Füßen (wenn man die Gehhilfen dazuzählt) Montparnasse pur auf dem Weg zu ihrem lukullischen Ziel durch ein Labyrinth verwinkelter Gassen, vorbei an pittoresken, spitzgiebeligen Häusern und Häuschen aus der guten alten Zeit, mit oder ohne Fachwerk, mit geraden oder krummen Fassaden, oft schmalbrüstig eingeklemmt zwischen den Nachbarn und vorbei an zahllosen Bistros, Tavernen und oft winzigen Schlemmerklausen mit exotischen Küchen. Die Luft war geschwängert mit Düften und Dünsten aus Pfannen und Töpfen jedweder Nationalität. Eine Wolke Knoblauch verdrängte das einschmeichelnde Odeur des Rosmarin, um seinerseits dem aufdringlichen Kreuzkümmel zu weichen. Manchmal roch es schlicht nach „Eau de Mief“ und an dunklen Ecken ließen menschliche Duftmarken die Schritte beschleunigen.
Irgendwann trug ein verwittertes Holzschild zur Linken die einladende Aufschrift „L’assiette“. Ein Bistro wie aus dem Bilderbuch. Hier kochte der Chef wirklich noch selbst, was schon die farbenfrohe Schürze bewies. Madame begrüßte die Gäste persönlich wie alte Bekannte und der als Kellner herausgeputzte Sohnemann geleitete uns an den reservierten, mit einem bunten Wachstuch gedeckten Tisch. Trotz seiner Bescheidenheit vermittelte die Ausstattung der Kneipe heimelige Behaglichkeit. Zwei uralte Wanduhren, in der Ecke ein Miefquirl Marke Edison, der verhinderte, dass die gehaltvolle Luft stehen blieb und an der Rückwand der Gaststube zwei Lithographien von Toulouse Lautrec.
Während wir uns am amuse bouche erfreuten – rillettes de porc und Baguette – studierten wir la carte: Bodenständiges und nach Hausmannsart, cassoulet, coq au vin, confit d’oie, pot au feu, tête de veau à la vinaigrette, quiche de poireaux, usw. Natürlich wählte ich mein Lieblingsgericht tête de veau. Diejenigen, die meiner Empfehlung folgten, besonders die „Novizen“ in Sachen Kalbskopf, waren begeistert. Eine Augenweide und eine Gaumenlust in Zubereitung und Repräsentation. Ganz oben, wie es sich gehört, eine Portion Hirn, darunter schneeweiße Würfel von der Maske und Scheiben von der gepökelten Zunge, alles überglänzt mit einer formidablen Vinaigrette und garniert mit kleinen Kälbchen aus Blätterteig. Als Belohnung „befahl“ mir Küchenchef Georg, die Brüder an einem der nächsten Kochabende mit tête de veau à la vinaigrette zu erfreuen.
Die Pausen füllten Bernd und ich, die beiden einzigen noch lebenden Fossilien aus der Gründerzeit, mit Anekdoten von damals. Nach Variationen von caramel à la Ducasse und nach reichlich Digestif wohlig satt und bettschwer übermannte uns die Sehnsucht nach Morpheus Armen. Manfred verführte uns noch in den Patio zu einem Absacker aus der Burgund, die Garantie für einen erholsamen Tiefschlaf.
Nach einem opulenten Frühstück – heute war Samstag – führte uns unsere charmante Guide per pedes und per tram von Highlight zu Highlight.
O tempora, o mores. Nach Pompidou’s Kahlschlag suchen Nostalgiker vergeblich nach Erinnerungen an die verspielte Belle Époque. Wo sind die Schächte der Metro und deren Gitter, weiland die Schlafzimmer der clochards. Statt dessen bestaunten wir die Wunderwerke der modernen Architektur, das „Centre Pompidou“ mit seiner bunten Röhrenfassade und den umstrittenen „Tour de Montparnasse“, mit seinen 210 m nach dem Eiffelturm der zweithöchste Turm der Stadt. Dem Erneuerungswahn Pompidous fielen auch die weltberühmten Markthallen „les halles“ zum Opfer. Aber auch die „neuen Hallen“ sind ein Dorado der Gourmets und all derer, die sich dafür halten. Die Beschreibung der Kunstwerke der Meister ihres Faches, der Bouchers, der Traiteurs, der Boulangers, der Charcutiers, der Pattissiers usw. würde den „Hummer“ füllen. Auf dem „langen Marsch“ gelangten wir in die Region der Fressgassen. Bei Susanne, unserer Guide, genossen Superlative Priorität, der beste Fleischer, der beste Bäcker, der beste Traiteur, der beste Pattissier, der beste Chocolatier, die älteste Kneipe, die älteste Bar, das älteste Café. Zufällig querte ein uraltes verschrunzeltes Männlein unseren Weg. Unserem Küchenchef Georg blieb die Bemerkung vorbehalten „und hier noch der älteste Pariser“.
An einem vorwitzigen Tisch auf dem Trottoir des ältesten Cafés direkt am Rande der brodelnden Gasse deponierten sie den ältesten Jubilar, nämlich mich. Die nach 20 Minuten zurückgekehrten Kulturbesessenen schockte ich mit dem Geständnis, während ihrer Abwesenheit einen köstlichen Orgasmus genossen zu haben – ich meinte einen in der Barkarte unter diesem Namen angepriesenen, an den karibischen Planter’s Punch erinnernden Cocktail.
Nächstes Ziel war der Eiffelturm, schon deshalb Pflicht, weil die Pariser ihr Wahrzeichen dem Genius des deutschen Ingenieurs Gustave Eiffel verdanken. In ca. 300 m Höhe genossen wir die einzigartige Aussicht über ganz Paris.
Die verdiente Atempause schenkte uns der „Jardin vertical“ mit seiner erholsamen Stille, scheinbar weit weg vom Lärm und der Hektik draußen in den Straßen und Häuserschluchten der Großstadt - fast gleichwertiger Ersatz für eine Siesta in den Daunen des Hotels.
Beim Anblick der wie durch Zauberhand von ihrer Erdgebundenheit erlösten, an senkrechten Hauswänden und Gartenmauern himmelwärts sprießenden farbenprächtigen Blumenbeeten mit Geranien, Hortensien, etc., den Gruppen von Büschen, Sträuchern und Farnen, der Teppiche aus Efeu, Gras und Moos, alles gestutzt und gepflegt wie ein englischer Garten, nur nicht auf der Parkanlage vor dem Herrenhaus, sondern buchstäblich „an der glatten Wand hoch“, weckte zwangsläufig Assoziationen zu den „Hängenden Gärten“ der Semiramis.
Kurz danach schnupperten wir im „Dunstkreis“ der Reichen und Superreichen und der Schönen und Allerschönsten - im Hotel Plaza Athene, der pompösen Absteige der Mata Hari, Josephine Baker, Grace Kelly, Jackie Kennedy und vieler anderer dieser Etage.
Über die Champs-Élysées mit Blick auf den Obelisk und den Triumphbogen gelangten wir zum berühmten Montmartre, mit seinem großzügigen Angebot an Kinos, Nachtclubs, sonstigen Amüsierbetrieben und anderen schlüpfrigen Etablissements. Gott sei Dank verblieb – neben der Basilika Sacré-Cœur – noch ein malerischer Rest des alten Pariser Künstlerviertels, mit seinen Erinnerungen an Toulouse Lautrec, Renoir, van Gogh, Picasso usw.
Kultur satt hatte uns dieser Tag geschenkt – und der Abend den lukullischen Zenit unseres Ausflugs. In Sekunden beförderte uns der Fahrstuhl in die 56. Etage des Tour Montparnasse in den „Ciel de Paris“, ein Elysium der Gourmets von betörender und zeitloser Faszination. Am fernen Horizont kämpfte Amun-Re, der Sonnengott, mit wabernder Glut und lodernden Flammen leidenschaftlich, aber ohne Chance gegen die Nacht, um kurz vor seinem Untergang ganz Paris in gleisendes Gold zu tauchen - ein unvergessliches Erlebnis, ebenso wie der kulinarische Teil des Abends. „la carte“ war eine Sammelmappe lukullischer Superlative und Sensationen der haute cuisine. Der Empfehlung des Garçon folgend eröffneten wir das Souper mit dem Aperitif des Hauses „Ciel de Paris“, einfach himmlisch. Allerdings blieben die Ingredienzien das Geheimnis des Küchenchefs. Meine zuständigen Sinne erfreute ich in der Folge mit nachstehenden Tellerhits, wobei der jeweils passende Wein selbstverständlich war.
Augenlust und Gaumenfreude waren:
Royal Caviar mit Blinis und Champagner Laurent Perrier
Foie gras á la dégustation mit Apfelchutney, Gelee von Portwein und Brioche
Hummer-Velouté mit Seeigeleier
Mit einer Steinpilzfarce gefüllte Rebhuhnbrust an getrüffelter Sabayonne
Mille-Feuille, d. h. Blätterteig, gefüllt mit Ziegenfrischkäse
Baba mit zweierlei Crèmes von der Orange und der Maracuja
Reichlich Champagner vermied lebensgefährlichen Flüssigkeitsmangel und diverse Digestifs förderten die Verdauung. Was taten die Schwestern und Brüder alles für ihre Gesundheit! Das fürstliche Mahl, der Champagner und das epikureische Glücksgefühl rundum weckte die Lust nach einem Schuss Bohème und Femme Fatal.
Die schon bekannten Gassen und Gässchen empfingen uns in ihrem Nachtgewand. In diffuses Licht getaucht, gespendet von den wenigen auf elektrische Birnen umgerüsteten Gaslaternen und den meist blinden Fensterscheiben der ebenerdig angesiedelten Kneipen, ein Hauch des dekadenten Charmes des „Fin de Siècle“ kitzelte die Sinnen. Irgendwo reanimierte ein Grammophon Marke „his Masters Voice“ den „Spatz von Paris“, Edith Piaf, wohl die berühmteste Chanson-Sängerin aller Zeiten. Sie gestand „non, je ne regrette rien“ – oder war es vielleicht Mireille Matthieu? Völlig normal wäre gewesen, wenn jetzt der kleine Toulouse Lautrec, einen Zeichenblock unter dem Arm, aus einer Kneipe uns entgegenkommend in Richtung Moulin Rouge getippelt wäre. Da war sie, „die kleine Kneipe in unserer Straße“ mit dem schönen Namen „Le Grand Filou“. Die Filous belagerten in Dreier-Reihen den Tresen. Mit Mühe eroberten wir noch zwei Stehtische auf dem Trottoir. Die laue Nacht, das geradezu erotische Flair und die salzigen Nüsschen ließen den Pastis in Strömen fließen. Die Einzelheiten über die Rückkehr zum Hotel sind mir entfallen.
Am darauffolgenden Sonntag waren Sehenswürdigkeiten aus der Perspektive der oberen Etage des zweistöckigen Omnibusses angesagt. Nach der anisschweren Nacht hielt sich das Verlangen der Jubilare nach Kultur in Grenzen, nicht jedoch der Wunsch, schnellstmöglich den ätzenden Brand in Kehle und Gaumen zu löschen. Nach einem fünfminütigen erschöpfendem Rundgang gelang uns dies in einer historischen Kneipe mit viel Cidre. Sicher hätte der Arc de Triomphe, Sacré-Cœur, das Panthéon und der Élysée-Palast mehr verdient, als verschleierte Blicke aus geröteten Augen und unverhohlenes Gähnen.
In einer kleinen Brasserie gegenüber unserem Hotel sagten wir Paris kulinarisch adieu, indem wir noch der Nationalwurst Frankreichs, der Andouillette, die gebührende Ehre erwiesen. Lediglich Bernd, unser Landeskanzler und gelernter Metzger-Meister, konnte den Anblick, wie wir den Naturdarm sezierten und das Geschlinge der Kaldaunen sich über die Teller verteilten, nicht ertragen. Während Georg sich mit dem trockenen Kommentar begnügte „so was wäre in Deutschland unverkäuflich“, orderte Bernd statt der Kuttelwurst einen Paillard. Serviert erhielt er jedoch kein Schmetterlingssteak, sondern einen zähen, flachgetretenen Tiroler Hut mit Pommes Frites und Sauce Gribiche, eine Art Remouladensauce.
Auf einem Bahnsteig im Mannheimer Hauptbahnhof, wo wir gegen 22 Uhr auf den Anschlusszug nach Karlsruhe warteten, köpfte Georg die übrig gebliebene Flasche Champagner und verteilte Trockenfutter. Fast unisono intonierten die aufgekratzten und kochenden Jünger Reuchlins die zweite Strophe unseres von mir nach der Melodie „Oh alte Burschen Herrlichkeit“ getexteten Clubliedes:
Der Reuchlin war ein Humanist,
Am Herd jedoch schuf er nur Mist.
sein Werk entstand in seinem Kopf
Der Hobbykoch braucht Herd und Topf.
Laurentius, Laurentius,
Kein Bauch sehnt sich nach Rizinus.
Den Refrain verschluckte der Lärm des einfahrenden Zugs. Den Brüdern Manfred und Georg sei herzlich gedankt für ihre Mühe und gratuliert zu ihrem optimalen Erfolg. In der Hoffnung, den des Lesens kundigen Kochbrüdern die Möglichkeit eröffnet zu haben, wenigstens virtuell an unseren genussreichen Erlebnissen teilhaben zu können, verbleibe ich
Euer Kochbruder Herbert Birle